Gehfrei & Co. – Weniger ist mehr!
Beruflich habe ich immer wieder mit dem Thema Gehfrei, Babywalker & Co.(Lauflernhilfe) zu tun. Da viele Eltern gar nicht wissen, dass diese vermeintlichen Hilfen die Kinder in ihrer normalen Entwicklung eher behindern, möchten wir mit diesem Blogbeitrag darauf aufmerksam machen und erklären warum. “Wir”, das sind meine physiotherapeutische Kollegin (Physio- und Bobaththerapeutin), mein kinderärztlicher Kollege (Neonatologe )und ich.
Nun aber erstmal zur Begrifflichkeit.
Was versteht man denn unter einer Lauflernhilfe?
Es gibt die unterschiedlichsten Begriffe. Man unterscheidet zwischen Gehfrei/Babywalker, Lauflernwagen oder Lauflerngerät. Sie sind meist aus Kunststoff oder Holz und werden von verschiedenen Anbietern angeboten. Beworben werden sie häufig mit den Worten „Wenn Kinder laufen lernen, freuen sie sich über jede Unterstützung.“ oder „Der Lauflernwagen ist der optimale Begleiter, wenn ihr Kind die ersten Schritte macht.“ oder „Die Lauflernhilfe unterstützt Ihren Liebling bei den ersten Gehversuchen und bietet gleichzeitig ideale Beschäftigungsmöglichkeiten.“
Beschäftigungsmöglichkeiten? – das Kind ist ausreichend damit beschäftigt das Laufen zu lernen! Externe Hilfen sind da nicht angebracht! Und genau darum geht’s: Jedes Kind hat seinen eigenen inneren Masterplan, den es verfolgt und jedes Kind entwickelt sich unterschiedlich schnell. Bei gesunden Kindern sollte möglichst auf Hilfen von außen verzichtet werden!
Natürlich wollen wir unserem Kind die Unterstützung geben, die es zum Laufenlernen braucht. Doch fragt man in physiotherapeutischen oder kinderorthopädischen Kreisen nach, wird schnell klar, dass dein Kind diese zusätzlichen Laufhilfen (wie Gehwagen etc.) nicht braucht. Und noch mehr: es sogar schadet! Mit Unterstützung beim Laufenlernen ist gemeint, wie bereits in meinem Beitrag „Fallen ist ein kleines Muss“ erwähnt, deinem Kind Zuspruch und Ermutigung zu geben, um die Phase des Laufenlernens motiviert zu durchlaufen. Die richtige und einzige Unterstützung, die dein Kind braucht, ist auf alle Arten von Laufwagen, Gehfrei und Lauflerngeräte /-hilfen zu verzichten! Dazu zählt ebenfalls leider auch die häufig angebotene Hand von Mama oder Papa.
Du kannst deinem Kind Gutes tun, indem du dafür sorgst, dass es sich an Sofas, Stühlen, Regalen usw. selbständig hochziehen kann. Dann kann dein Kind das wichtige Seitwärtslaufen lernen, das nebenbei für die Hüftentwicklung gut ist. Achte darauf, dass beim Üben nichts umfallen kann. Die meisten Kinder beginnen übrigens aus eigener Motivation heraus, Gegenstände, wie Stühle, Hocker, Kiste etc. vor sich her zu schieben. Hier findet dann oft ein Wechsel vom aktiven Aufrichten hin zum Hinknien und Krabbeln und umgekehrt statt. Das ist erst einmal nicht negativ. Wichtig ist, dass du deinem Kind diese Gegenstände nicht aktiv anbietest, es sollte aus eigener Motivation heraus geschehen. Schließlich müssten wir sonst all unsere Möbel für diese Zeit aus unserem Leben verbannen. Puh!
Gesunde Kinder beginnen von ganz allein mit dem Laufen, wenn sie die nötigen Voraussetzungen hierfür erlernt haben. Wenn das Kind bevor es frei laufen kann, immer wieder aktiv durch die Hand der Eltern oder Laufgeräte unterstütz wird, kann sich die gesamte motorische Entwicklung sogar verzögern und/oder negativ beeinflusst werden. Dies konnte bereits in mehreren Studien belegt werden.
Vielleicht hilft es dir etwas geduldiger auf die ersten Schritte deines Kindes warten zu können, wenn du weißt, dass das Krabbeln ein wichtiger Meilenstein in der Entwicklung ist und gerne länger ausgeführt werden darf. Krabbeln dient dem Abbau von nicht mehr benötigten Reflexen, Kräftigung und Training der Stützfunktion der Arme/Schultern und somit der Vermeidung von Verletzungen bei Stürzen. Krabbeln führt zur Verbesserung der Kreuzkoordination, Kräftigung des gesamten Rumpfes, hat einen positiven Einfluss auf die Hüftreifung und und und …
Was ist der Unterschied zwischen Gehfrei/Babywalker und Lauflernwagen?
Der Unterschied ist, dass der Gehfrei meist schon ab einem Alter von 6 Monaten vom Hersteller empfohlen wird. Das Kind hängt in der Mitte des Gerätes und kann mit den Zehenspitzen oder dem gesamten Fuß den Boden berühren. Es ist fest eingespannt und kann sich nicht selbständig aus dem Gerät lösen. Anders der Lauflernwagen. Meist ist das Kind schon etwas weiter in der Entwicklung. Es kann das Gerät vor sich herschieben.
Beim Lauflernwagen ist es beispielsweise so:
Wenn das Kind einen Lauflernwagen nutzt, kann es sich abstützen und Teilkörpergewicht abgeben. Das kann dazu führen, dass ein falsches Bewegungsmuster erlernt wird. Häufig ist die Oberkörper-, Hüft- und Fußmuskulatur noch nicht kräftig genug, um den Anforderungen des eigenständigen Gehens gerecht zu werden. Die natürliche Haltungskontrolle des Körpers, Gleichgewichtsreaktion sowie die gesunde Rotation zwischen Oberkörper und Becken, die jeder für die gesunde Fortbewegung beim Gehen braucht, werden gehemmt.
Der Gehfrei/Babywalker:
Viele Hersteller von Gehfrei geben eine Altersempfehlung ab 6 Monaten an. In diesem Alter sind Kinder in ihrer motorischen Entwicklung noch weit vom freien Laufen und Stehen entfernt. Die Muskulatur und knöchernen Strukturen sind noch nicht reif für den aufrechten Stand und Gang. Kräfte die im Stand und beim Laufen entstehen, können noch nicht abgefangen, stabilisiert und adäquat verarbeitet werden. Hier entstehen Fehlbelastungen, die im weiteren Verlauf der Entwicklung zu erheblichen Folgeschäden/Beschwerden führen können. Wenn du mehr Infos zu Folgeschäden möchtest, dann schau einmal hier.
Abgesehen von der motorischen Entwicklung (Motorik) kann es mit Lauflernhilfen (besonders dem Gehfrei/Babywalker) zu Stürzen kommen. In der Vergangenheit wurden bereits viele Treppenstürze bei der Nutzung des Gehfrei/Babywalker berichtet. Die Kinder sind im frühen Alter noch nicht in der Lage Gefahren einzuschätzen.
Von meiner Seite gibt es ein klares NEIN zu Lauflernhilfen! Vertrau dem Masterplan deines Kindes. Es wird ganz von selbst in seinem Tempo jeden einzelnen motorischen Meilenstein vollziehen. Solltest du unsicher sein, dann frag bei deinem Kinderarzt /Kinderärztin nach, ob alles noch im Normbereich liegt.
Und noch etwas: Ein kategorisches NEIN ist nicht alltagstauglich! Es wird immer wieder Situationen geben, in denen wir nicht alle Tipps beherzt im Alltag umsetzten können. Du machst es gut so, wie es ist!
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